Der Totenvogel – Ankündigung des Todes?

 

Wir befinden uns auf einem Berg in Südtirol. Vor uns steht der Bauernhof nach dem wir suchten. Alles scheint friedlich und normal zu sein, zumindest auf den ersten Blick. Vor der Haustür wartet der Seniorbauer Nathan auf uns. Seinetwegen sind wir hier. Er ist es, der ihn hören kann – den Totenvogel.

 

In der Bauernstube setzen wir uns an den Tisch. Er, Nathan, der jüngste Sohn von Natz beginnt zu erzählen, was hier vor sich geht.

 

Alles fing mit dem Tabak an

 

Unser Vater Natz wohnte auf einem Bergbauernhof. Etwas unterhalb davon stand der Nachbarhof, welcher vom alten Muchele–Bauer und seinen Kindern bewirtschaftet wurde. Der Weg hinunter ins Tal ging direkt an diesem Hof vorbei. Weil der Abstieg für den Muchele altersbedingt mühselig und zu weit war, bat er meinen Vater, ihm Tabak und Zigarettenpapier auf dem Heimweg mitzubringen. Mein Vater kam der Bitte gerne nach. Über Wochen legte er nach Feierabend den Tabak auf den Holzbalken des Kellerfensters vom Nachbarn. Da der Muchele aber seit jeher früh zu Bett ging, verpassten die zwei sich immer und das Begleichen der Schulden blieb aus. Für meinen Vater ging das in Ordnung. Er war sich sicher, dass die Angelegenheit bereinigt werden würde und grämte sich nicht.

 

Der Tag des Todes

 

Inzwischen war es Winter geworden. Weiter entfernt des Heimathauses befand sich der alte Muchele–Bauer in der Kirche bei einer Messfeier. Das Berggelände vor Ort war steinig und gefährlich. Er unterschätzte die Tücken des Eises. Auf dem Heimweg rutschte der alte Muchele aus, stürzte ungebremst den Steilhang hinab und blieb regungslos liegen. An jenem schicksalhaften Tag erlag der alte Nachbarbauer seinen Verletzungen.

Der tote Muchele stand leibhaftig vor mir

Der tote Muchele stand leibhaftig vor mir

 

Mein Vater erzählte, dass der verunglückte Nachbar begraben wurde. Doch ungefähr einen Monat später geschah das Unfassbare. Als er auf dem Heimweg von der Arbeit die Höhe des Nachbarhofes erreichte, sah er den alten Muchele-Bauern unterhalb seines Hauses stehen. Er sah genau so aus, wie er es zu seinen Lebzeiten tat.

Er hatte die selben Hosen an, voller aufgenähter Flecken. Auf dem Kopf trug er wie gewöhnlich seinen Hut.

 

Mein Vater erschrak zutiefst und dachte bei sich: „Nein, da kann ich nicht mehr rüber gehen. Ich gehe nicht an einem toten Menschen vorbei. Der ist gestorben und dass der da drüben steht, nein!“. Er traute seinen Augen kaum, zweifelte an seinem Verstand, Angst und Bange war ihm, zum umfallen. Als Vater erkannte, dass der Blick des Toten direkt auf ihn gerichtet war, war die Entscheidung gefallen. Er bog vom Weg ab, um über die Wiese hoch zu laufen. In seiner Angst schienen ihm seine Beine nicht mehr gehorchen zu wollen. Als er ein gutes Stück Abstand gewonnen hatte, siegte dennoch sein Wunder über die Angst.

 

Um zu sehen, ob der Verstorbene noch da stand, drehte er sich um und warf einen Blick nach unten. Doch der verriet ihm nur, dass der tote Muchele seinen Platz nicht verlassen hatte. „Nein“, dachte mein Vater beim weitergehen bei sich, „den Tabak schenke ich dir, den Tabak schenke ich dir, nur das Frieden ist!“. Intuitiv ging er davon aus, dass der Muchele wegen der Tabakschulden präsent war.

 

Mein Vater erreichte das Ende der Wiese und kam somit auf den richtigen Weg zurück. Ein letztes Mal drehte er sich um und erkannte abermals, dass der Tote seinen Platz nicht verlassen hatte und ihm mit seinem Blick folgte. Im Kopf meines Vaters wiederholten sich nur immer wieder die Sätze: „Den Tabak schenke ich dir, ich schenke ihn dir, alles ist in Ordnung!“. Seit dem hat er ihn nie wieder gesehen. Mein Vater war Zeit seines Lebens davon überzeugt, dass der Muchele sich ihm zeigte, damit ihm die Schulden erlassen werden und er seinen Frieden finden konnte. All das geschah ungefähr 1920.

 

Der erste Ruf

Meine Geschwister und ich sind auf dem Heimathof meines Vaters aufgewachsen. Die Tochter des Muchele-Bauern lebte auf dem Hof ihres verstorbenen Vaters. 1959 beschloss sie zu heiraten. Bei uns war es Tradition, vor der Hochzeit „Katzenmusik“ zu machen. Das hieß, man lud Verwandte, Bekannte, Freunde und Nachbarn zu einem Umtrunk ein. Eine Kleinigkeit zu essen wurde aufgetischt und mit der „Goaßel“ (Peitschenartiger Gegenstand dessen Seil-Ende durch schnelle Zugbewegung einen Knall verursacht) wurde „gschnöllt“, sprich Krach gemacht. Ich war damals 14 Jahre alt und zu jung dafür, doch meine beiden älteren Brüder sind zum Nachbarhof hinunter gegangen um mitzufeiern.

 Zur selben Zeit war meine Großmutter bettlägrig und in unserer Stube untergebracht. Sie hatte sich den Oberschenkel gebrochen und ein Transport ins Krankenhaus oder zu einem Arzt war bedingt durch die Abgelegenheit des Hofes undenkbar.

 

Gegen Mitternacht beschlossen meine Brüder den Heimweg anzutreten. Bereits nach wenigen Metern vernahmen sie den durchdringenden Ruf eines Vogels. Keiner von beiden ahnte damals, welche Bedeutung jener Ruf einmal haben würde. Seine Lautstärke ließ vermuten, dass er von einem Ast zum anderen flog, stetig ihnen folgend. Egal wie nah sie unserem Haus kamen, das Tier schien immer neben ihnen zu sein. Das Rufen verstummte erst, als sie die Eingangstür hinter sich schlossen. Später meinten sie, es war, als ob der Vogel sie heim begleitet hätte.

 

Johannes, der Jüngere von den Beiden, der ist bereits verstorben, kam hoch ins Zimmer und legte sich schlafen. Ich hab mich im Bett daneben umgedreht und mir nichts weiter gedacht. Da kam Andreas fragend zur Tür herein: „Hört ihr jetzt nichts mehr?“ Johannes murmelte nur: „Ich hab nichts mehr gehört, ich will jetzt schlafen.“ Ich hatte keine Ahnung, wovon die Zwei sprachen.

  

Der Ältere ging noch einmal die Treppe hinunter um mit Oma zu plaudern. Als er wieder hoch kam, legte er sich neben uns zu Bett. Johannes und ich schliefen bereits tief und fest. In jener Nacht ist Andreas nie wirklich eingeschlafen. Warum kann ich nicht mehr sagen. Plötzlich begann ein Gepolter und Klopfen am Zimmerfenster, ich hör es heute noch, als ob jemand rein wollte. Es rüttelte und pochte regelrecht daran. Auf einmal war das Rufen des Vogels war wieder da. Dieses mal hörte ich ihn auch. Zeitgleich vernahmen wir um uns herum ein grauenvolles Schnaufen. „Was ist denn das?! Hört ihr das?!“ Andreas war der Erste, der es wagte anzusprechen, was uns alle aus dem Schlaf riss. „Ja, klar!“, doch keiner wusste sich zu erklären, was hier gerade vor sich ging. „Rechtens ist das jedenfalls nicht mehr“, meinte er und wurde in dem Moment von unserem Vater unterbrochen. Der war im unteren Stock aus der Stube heraus geeilt und rief zu uns hoch: „Biablen, kommt runter, die Mutter geht sterben!“ Wir sind sofort runter gerannt, doch ich konnte nur noch ihren letzten Atemzug sehen. Dann war ihre Seele fort. Das Gepoltere aber, da waren und sind wir uns einig, das war sie. Hundert prozentig. Sie hat sich uns einfach ein letztes Mal gezeigt ehe sie für immer ging. Der Vogel schien mit ihr verstummt zu sein.

 

Der Vogel und der Tod

 

An jenem Abend, als meine Großmutter starb, hörte ich zum ersten Mal den Ruf des Vogels. Mit Mitte zwanzig habe ich wenige Kilometer von meinem Elternhaus entfernt einen Bauernhof gekauft. Erst nach dem Umzug hierher begann ich den Laut des Vogels wieder wahrzunehmen. Zu Beginn dachte ich mir nichts dabei. Doch die Erfahrung ließ erkennen, dass sein Klang weitaus mehr war, als das Hören einer Vogelstimme. Ich stellte fest, dass dem Ruf zu neunzig Prozent ein Todesfall folgte. Ich begann das Tier aufgrund der Tatsachen als den „Totenvogel“ zu bezeichnen.

Das Leben mit dem Totenvogel

 

Ich bin jetzt dreiundsiebzig Jahre alt. Seit ich hier auf meinem Hof lebe, habe ich den Vogel mindestens einmal pro Jahr gehört. Manchmal komm ich vom Stall herauf und sag zu meiner Frau: „Jetzt hat wieder der Totenvogel gerufen, da wird jemand sterben.“ „Ach was“, wehrt sie dann ab, „da stirbt niemand!“

 

Es ist so: Wenn er unterhalb von unserem Hof schreit, dann stirbt jemand, der unterhalb von uns wohnt. Das Selbe gilt für oberhalb bzw. talaus- und taleinwärts. Manchmal ruft er zwei, drei Tage vorher, manchmal nur einen Tag davor. Mal ruft er Morgens, mal Abends, manchmal auch zu beiden Zeiten. Und wisst ihr, das ist gespenstisch, wenn man den hört. Das macht so „Uuuuh“, ich denke, dass es eine Nachteule ist. Wenn ich unterwegs bin und sie höre, habe ich immer das Gefühl, dass sie auf mich zufliegt. So, als ob sie zu mir her wolle, so kommt's mir vor.

 

Ob ich den Vogel vernehme hat wesentlich mit dem Bekanntheitsgrad des Dahinscheidenden zu tun. Wenn ich mit dem Menschen zu Lebzeiten nicht viel zu tun hatte, dann ruft der Vogel auch nicht. Wenn es aber jemand ist, den ich gut gekannt habe, oder wir uns am Herzen lagen, dann meldet er sich.

 

Mit den Leuten in der Nachbarortschaft hatte ich zum Beispiel arbeitsbedingt viel zu tun. Für gewöhnlich, wenn einer von ihnen stirbt, höre ich den Vogel vorher. Welcher Mensch es sein wird, kann ich aber nie sagen. Beeinflussen kann ich das Rufen des Tieres nicht.

  

Mein Bruder befand sich im Krankenhaus als er starb. Bei ihm habe ich nichts gehört. Als aber meine Schwester dahinschied, die talauswärts von meinem Hof lebte, vernahm ich die Laute der Eule aus genau derselben Richtung.

 

Der Vogel stirbt nicht?

 

Das höchste Alter, das von einer Eule je festgestellt werden konnte beträgt achtzehn Jahre und acht Monate. Folgedessen kann es also nicht sein, dass es immer der ein und selbe Vogel ist, den der dreiundsiebzig-jährige Nathan seit seinem vierzehnten Lebensjahr hört. Diese Feststellung lässt vermuten, dass Eulen generell Menschen auf einen nahenden Todesfall hinweisen können.

 

Nicht das einzige Phänomen dieser Art

 

Die Erzählung von Natha weißt große Ähnlichkeit mit den Berichten von Menschen auf, die Erfahrungen mit dem „Mothman“, auf Deutsch Mottenmann, gemacht haben. Zeugen berichten weltweit von Erlebnissen, in denen sie in unterschiedlichen Formen mit der seltsamen Kreatur in Kontakt kamen und sich kurze Zeit darauf großes Unheil in ihrem Umfeld zugetragen hat.


Diese Mensch-Tier-Gestalt ist sozusagen ein Prophet, der auf seine Art negative Geschehnisse ankündigt. So wurde ihm zu Ehren auch eine Statue in Point Pleasant, West Virgina aufgestellt . Ein geflügeltes Fabelwesen, halb Mensch halb Eule mit leuchtend roten Augen.


Auf die Nachfrage bei  Anton, ob die verbleibenden zehn Prozent eine Vorwarnung für anderes Unheil war oder gewesen sein könnte, verneinte er jedoch. Spannend bleibt die Geschichte um Anton allemal. Es ist nicht das einzige paranormale Erlebnis, von dem er zu erzählen wusste. Auf seinen Spuren und deren des Mottenmannes werden wir weitersuchen nach Erklärungen, die das Unerklärliche greifbarer machen.

 

Autor und ©: Irene Eschgfäller